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Softwaretest: Wenn die Realität die Vision überholt

Ende 2019 veröffentlichte die ISTQB ein Paper mit dem Titel "The Vision on the Future of Software Testing".

Unmittelbar danach entfachte diese Vision bei vielen Test Professionals in den sozialen Netzwerken sehr kontroverse Diskussionen. Die Reaktionen gipfelten gar im Aufruf zur offenen Rebellion.

Oje. Was war denn da los?

Die Vision der ISTQB beschreibt, dass wir Tester zukünftig durch KI und Machine Learning unterstützt, wenn nicht sogar ersetzt werden, weil dann nämlich Software andere Software testen wird und wir unsere Komfortzone des Testens verlassen werden müssen, um mehr interdisziplinäre Rollen anzunehmen. Mit Soft Skills und so was. Dies sei auch einer neuen Art des Arbeitens in sogenannten agilen Teams geschuldet, wo das Testen anscheinend nicht am Ende der Nahrungskette, sondern, nun, irgendwie andauernd stattfindet.

„Testing professionals will transition over time to provide testing expertise within expanded aspects of the software development life cycle, not just performing testing at the end of the process.“

Kurzum: Die ISTQB fordert uns auf, nun endlich den Muff unserer traditionellen Testbürokratie abzulegen.

Hört, hört. Und das von den Chefkonservatoren des Muffes, die den Muff seit Jahrzehnten predigen, mit der Zertifizierung von Muff Geld verdienen und deren einzige Existenzgrundlage nun mal, Sie ahnen es, der Muff ist.

Und nun das. Einerseits möchte man der ISTQB zum Umstand gratulieren, dass sie scheinbar doch noch im 21. Jahrhundert angekommen ist. Glückwunsch. Andererseits kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass die Ignoranz der ISTQB, der Amtsstube des Softwaretests, nur noch von ihrer Arroganz übertroffen wird. Ein derartiges Maß an Realitätsverweigerung kennen wir sonst doch nur von der katholischen Kirche. Und genau wie diese ist auch die ISTQB anscheinend noch im Rollenbild des (digitalen) Mittelalters verhaftet.

Immerhin, im Gegensatz zum Vatikan hat man bei der ISTQB aber nun scheinbar doch den Knall gehört. „ [...] testing professionals need to not only increase their technical skills but also expand their soft skills. This includes such skills as decision-making, leadership, interpersonal communications, project management, and teamwork. “

Das klingt wie der Weckruf der ewig Gestrigen an sich selbst, nun die Flucht nach vorne zu ergreifen. Dumm nur, dass alle anderen schon längst vorne sind. Und von fern, ganz weit hinten, tönt leicht außer Atem der Schlachtruf der ISTQB. Im Ernst - was hier als "Vision der Zukunft des Testens" verkündet wird, ist für die meisten professionellen und erfahrenen Softwaretester bereits täglich gelebte Realität. Und das nicht erst seit ein oder zwei Jahren, sondern schon beträchtlich länger.

Es ist also kein Wunder, dass der ISTQB hier erheblicher Gegenwind aus der Testerszene den Seitenscheitel zerzaust. Und ungeachtet aller fragwürdiger Fachlichkeit ist dieses Papier auch noch auf rein menschlicher Ebene schon ein Desaster: Nirgends wird dort das Wort "Wir" verwendet, wenn es darum geht, wer zukünftig etwas machen, lernen oder begreifen muss. Oder kann, könnte, soll(te). Nein, hier wird schön von oben herab bornierter Distanz gewahrt: "Die Tester...".

Die unzähligen Worthülsen bei der Beschreibung der Zukunft zeugen davon, wie schwer man sich damit tut verbindlich zu sein und klare Begrifflichkeiten zu verwenden. Hier führten die gleichen Personen die Feder, die unmittelbar zuvor noch Lastenhefte im mittleren, nicht-technischen Beamtendienst verfasst haben: alles möglichst allgemeingültig. Das ist dumpfe Technokratie, frisch aus dem Nadeldrucker auf gelochtem Endlospapier verewigt und im Leitz-Ordner abgeheftet.

Aber:

Bei aller Kritik an der ISTQB (nicht zuletzt von mir), müssen wir, die "Boomer" unter den Softwaretestern, uns eine Mitschuld an dieser Misere eingestehen. Wieso? Weil wir über viele Jahre hinweg unser Silodenken kultiviert, bürokratisiert und institutioniert haben. Wir waren die Schergen der ISTQB. Wir haben das Softwaretesten immer kleinteiliger angepriesen und spezialisiert: Ein Tester spezifiziert, dokumentiert, reportet. Er macht Systemtest, Integrationstest, Akzeptanztest, End2End-Test, Last- und Performance Test, Usability Test, Security Test, ... die Liste lässt sich ad infinitum weiterführen. Und was macht ein Entwickler während der Zeit?

Er entwickelt. Selbst wenn er sich mit Unit-Tests oder Refactoring beschäftigt wird "entwickelt".

Nichts von dem, was ein Entwickler tut, ist so in Zement gegossen und als Mauer hochgezogen wie unsere Softwaretests, die sogar spezialisierte Berufsbezeichnungen und Headhunterprofile nötig gemacht haben.

Ja, wir haben es uns in unserer Komfortzone über Jahrzehnte hinweg gemütlich gemacht. Ab und an neue Tapeten, modernere Sessel, immer ein sauberer Teppich. Ordentliche kleine Spießergärtchen mit hübschen Zäunen. Aber im Gegensatz zur ISTQB wissen wir, dass der Hase mittlerweile anders läuft: Wir können Flexibilität. Wir können agile. Wir wissen wie man zwischen Stakeholdern, Entwicklern, Kunden und DevOps vermittelt, wie man die Kuh vom Eis holt, wie man gemeinsam an einer Strippe zieht, wie man ein leckgeschlagenes Boot flickt während wir alle gemeinsam drin sitzen. Die ISTQB kann nichts davon.

Wir wissen, dass Testen nur eine Aktivität in der Ganzheit der Qualitätssicherung ist. Die ISTQB muss das scheinbar noch lernen. Und sie sollte ihr Lehrmaterial vielleicht mal dahingehend etwas abstauben und auf diese neuen, von ihr selbst geforderten Gegebenheiten anpassen. Leider hat sie keine Ahnung was das bedeutet. Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Und ganz wichtig, wenn man sich schon als ahnungslos outet: Immer schön bescheiden bleiben. „The ISTQB® established its position in the first years of its existence as the de-facto international software testing standard and as the leader organization for the software testing professionals around the globe.“

Das einzige, was ich wirklich spannend finde an der Vision der ISTQB und was erstaunlicherweise an keiner Stelle thematisiert wurde: die Rolle der ISTQB in dieser Zukunft.

Das wäre doch mal spannend! Ich hätte dazu auch schon eine ziemlich klare Vision: Für Bürokraten und Apparatschiks des Softwaretests gibt es da nämlich keine Zukunft. In einer Welt, in der täglich Silos disruptiv vernichtet werden, ist kein Platz für Institutionen, deren Sinn ausschließlich darin begründet ist, den perfekten Silo zu bauen, ihn mit größtmöglicher Komplexität und Regelwerk ausgestattet perfekt zu verwalten und ihn für die Ewigkeit zu erhalten. Doch über das alles könnte man noch diskutieren. Zumindest milde belächeln. Und dann kommt diese Stelle, an der die ISTQB den Vogel abschießt und erklärt, dass "die Wahrnehmung von Qualität sich permanent verändert und vom Business getrieben wird":

„Testing professionals must understand the view of quality is ever-changing and it is driven by the Business.“ Ganz dünnes Eis. Man mausert sich also vom Muffverwalter zum Nestbeschmutzer, um auch noch den Letzten gegen sich aufzubringen? Nein, Leute! An dieser Stelle ist die Toleranzgrenze definitiv überschritten.

Qualität ist nicht verhandelbar! Qualität ist kein bewegliches Ziel! Die ISTQB verwechselt Qualität mit Test. Okay, ist nicht schlimm, passiert ja häufiger. Meistens im mittleren Projektmanagement. Aber dass das International Software Testing Qualification Board dieses Verständnis nicht auf die Reihe kriegt, ist mehr als peinlich und spricht Bände.

Qualität ist zwar definitiv nicht Sache der Tester alleine, sondern muss allen Beteiligten als höchstes Ideal, zumindest als Grundsatz gelten. Und die Verantwortung für die Definition von Qualität proaktiv aus der ISTQB zu descopen und ans Business zu delegieren ist zwar löblich, weil der Bock jetzt kein Gärtner mehr ist, zeigt aber auch wie weit die ISTQB sich von den Grundwerten der Qualitätssicherung entfernt hat. Testen ist der ISTQB offensichtlich wichtiger als Qualität. Und damit ist wohlgemerkt das Testen gemeint, dass es in der eigenen Vision der Zukunft nicht mehr geben wird. Man schafft sich selbst ab. Und wenn das nicht funktioniert bleibt zu hoffen, dass die ISTQB in der Zukunft auch durch Software ersetzt wird.

Software kann man fixen. Köpfe nicht.

In diesem Zusammenhang ist übrigens auch die Dankesliste am Ende des Papiers sehr interessant. Nicht, weil dort vielleicht viele bekannte Namen unter den Beitragenden auftauchen, sondern vielmehr, weil viele bekannte Namen dort NICHT auftauchen: Die Namen derer, die das Testen in den vergangenen 10 ja sogar 20 Jahren neu definiert, modernisiert und vorangetrieben haben. Lisa Crispin, Kent Beck, Dorothy Graham, Mike Cohn, Martin Fowler, Michael Bolton, Janet Gregory, James Bach, Anne-Marie Charrett, Cem Kaner, Liz Keogh, Joe Colantonio ...und ich könnte die Liste noch lange fortsetzen. Hat man die etwa gar nicht erst gefragt? Hatte man Angst vor deren Antworten?

Aber von diesen Kollegen brauchen wir ohnehin keine Vision zur Zukunft des Softwaretestens: Sie definieren die Zukunft Tag für Tag. Und wir leben die Zukunft Tag für Tag. Eine Zukunft die sehr weit weg ist von der Vision der ISTQB.

Autor: Thomas Klein


Bild: kim lee, Unsplash